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1. Tangier: Le Gran Cafe de Paris

Vier Tage war ich jetzt in Tanger. Das ist für mich das absolutes Minimum, um ein wenig in die Seele einer Stadt einzutauchen. Ich sitze im Le Gran Café de Paris, am Place de France, gleich gegenüber dem französischen Konsulat. Das Café ist eine Institution in Tangier, established 1927, das Interieur hat sich kaum verändert, sagt man. In den 1940er bis 1960er Jahren verkehrten hier Bohemiens, Schriftsteller, Spione und Päderasten. Jeder der hellbraunen stylischen Lederstühle hatte eine kleine Geschichte zu erzählen. Tennessee Williams, Paul Bowles, Truman Capote, William S. Burroughs und Jack Kerouac waren hier, um nur ein paar Namen zu nennen. Das Café diente für einige Spielfilme als Kulisse. Die Kellner des Gran Café waren alt, so alt, dass sie Teil des Inventars waren. Ich liebte solche Plätze, sie zogen mich an. Viel mehr als Museen oder sonstige konventionelle Sehenswürdigkeiten.

Soeben nahm neben mir eine extravagante, ganz in schwarz gekleidete Französin, mit übergroßer Sonnenbrille und Michael Kors Handtasche, Platz. Laut und hektisch gestikulierend telefonierte sie mit ihren zwei Handys umher. Franzosen telefonierten gerne laut und achtlos, dachte ich nicht zum ersten Mal. Als sie endlich das Gespräch beendete und das Telefon ablegte, konnte ich an ihrem Hals erkennen, dass sie doch nicht Anfang Vierzig war, wie ich zunächst annahm, sondern mindestens Sechzig.

Gut zwei Stunden verbrachte ich jeden späten Morgen hier im Café, immer am gleichen Platz, immer unter der großen Wanduhr, direkt gegenüber des Haupteingangs. Strategisch gut gelegen hatte ich so die gesamte Räumlichkeit im Blick. Befand mich somit abseits der Laufkundschaft und konnte so ungestört meinen Beobachtungen freien Lauf lassen.
Einige der Charaktere des Cafés kannte man bereits vom Sehen. So den großgewachsenen Europäer in dem beigefarbenen Trenchcoat. Ich schätze mal Franzose. Er trug immer eine auffällig grell bunte Keith Haring Umhängetasche über der Schulter. Lief immer mit suchendem Blick durchs Café. Er blieb nie lange, kam gefühlt jede Stunde, trank nie was. Was er wohl suchte?

Ich versuchte, Burroughs bekanntesten Roman „Naked Lunch“ zu lesen, kam aber nicht voran, wurde immer wieder abgelenkt. Das Buch war nicht leicht zu lesen. Eigentlich war es gar kein Roman, sondern vielmehr eine disparate Aufzeichnung von realen Erlebnissen, Halluzinationen und Phantasien ohne durchgängigen Handlungsfaden. Eine wilde, abgründige Prosa, ohne Unterteilung oder Kapitel, an denen man sich mal kurz ausruhen hätte können.
Ich wollte aber durchhalten, bis zum Schluss, das hatte ich mir fest vorgenommen. Burroughs schrieb es während seiner Drogenabhängigkeit in Tanger in den 50er Jahren, im Hotel El Muniria, in dem ich auch wohnte. Laut einer Internetseite, Treffpunkt von Literatur-Nerds und Nostalgikern. Ich habe keine getroffen. War wohl noch zu kalt. „El hombre invisible“ nannte der damalige Hotelbetreiber Burroughs übrigens, da man ihn fast nie zu Gesicht bekam.

Tanger, oder wie Burroughs die Hafenstadt gerne in seinen Erzählungen nannte, die Interzone, war in den 50er bis in die 60er Jahre ein Sündenbabel. Eine neutrale Sonderzone mit besonderem internationalen Status. Liberal und sehr freizügig. Als Europäer hatte man dort nichts zu befürchten, solange man seine Rechnungen beglich. Alles war möglich und erhältlich.

Fadal, einer der Kellner im Paris, immer im Anzug und weißen Hemd, brachte mir einen weiteren Café au Lait. Nennt mich dabei immer, liebevoll Monsieur. Das geht schnell im ganzen Maghreb, natürlich sollte man das Trinkgeld nicht vergessen. Auch der Toilettenmann des Cafés grüßte mich immer mit seinem Plakatgrinsen, wohl wissend, dass ich ihm einige Dirhams nach meiner Notdurft in die Schale legte.

Ich mochte Tanger, die Stadt übte einen gewissen Reiz auf mich aus. Die Menschen waren reservierter, gingen einem nicht so auf die Nerven wie in Fez oder Marrakesch. Sie wirkte eher mediterran mit den großzügigen Boulevards und ihrer weißgetünchten Architektur. Tanger war nicht so streng und orientalisch wie andere Städte in Marokko. Obwohl, wie ich unlängst las, die Anzahl der Hijabs in der Hafenstadt in den letzten zehn Jahren sprunghaft zugenommen haben soll. Eine Entwicklung, die man in fast allen muslimischen Ländern beobachten kann.

Im Gran Café saßen die Einheimischen meist stundenlang, ja oft den halben Tag. Man trank Café au Lait, Café noir, Espresso oder den landestypischen frischen Pfefferminztee. Also ohne Beutel, sondern zubereitet mit frischen Blättern in einem großen Glas. Gerne mit viel Zucker. Zum Kuchen essen ging man woanders hin. Die drei oder vier Croissants, die hinter der Scheibe in der Auslage lagen, sahen so aus, als ob sie schon seit Wochen hier liegen.

Gelegentlich kamen auch fliegende Händler durch die große Glastür ins Café, natürlich nur solche, die die Erlaubnis hatten. Versuchten Uhren, Socken oder sonstiges an den Mann zu bringen. Gestern wollte mir ein Herr mittleren Alters das karierte Jackett seines verstorbenen Vaters verkaufen. Ich habe sogar kurz mal überlegt.