Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, welches Lied da auf dem alten Piano gespielt wurde. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich nochmals auf die einzelnen Töne. Dann hatte ich es, es war In my Life von den Beatles. Der von Lennon geschriebene Song, klimperte als Jazzversion derart verfremdet in einer Endlosschleife vor sich hin, dass ihn mein geschultes Ohr kaum entschlüsseln konnte. Ich sitze an dem von mir gewählten Tisch an der Südseite des Raumes. An dem, mit den vier großen Sesseln. Fast schon ein bisschen frech. Aber von hier hatte man den besten Überblick. Die Gratissnacks des Hauses, Nüsse und getrocknete Bananenscheiben, stehen bereits auf dem Tisch. Vertieft in die Karte, suche ich nach dem günstigsten Drink.
Ich bin in der Elephant Bar im Le Royal, dem traditionsreichsten Hotel in Phnom Penh. Ich dachte, nach über zwölf Jahren in Kambodscha, sei es mal an der Zeit dort vorbei zu schauen. Das Hotel wurde 1929 eröffnet und von einem gewissen Ernest Hébrard im Art Deco Stil entworfen. Hébrard war seinerzeit bekanntester Stadtplaner Indochinas. Er saß unter anderem auch für das vietnamesische Saigon und Dalat am Zeichentisch. Zweihundertsiebzig Dollar zahlt man heute für das billigste Zimmer im Le Royal, das mittlerweile zur Raffles-Gruppe gehört. Ein Unternehmen aus Singapur, das sich auf das Aufpolieren alt-ehrwürdiger Hotels spezialisiert hat.
Viele bekannte Gesichter hat das Le Royal schon gesehen. Charlie Chaplin oder den Schriftsteller W. Somerset Maugham. Ende der 60er Jahre nächtigte Jacqueline Kennedy Onassis hier. Nach der Stil-Ikone wurde auch der sogenannte “Signature Coctail“ des Hauses benannt – der “Femme Fatale“. Das trichterförmige Glas für vierzehn Dollar, plus der üblichen zwanzig Prozent an Aufschlägen, die in solch Lokalitäten gerne verlangt werden. Bei dem Preisniveau begnügte ich mich mit einem Carlsberg vom Fass, das musste reichen als Eintrittskarte für meine Beobachtungen.
In den goldenen Zeiten Kambodschas, nach der Kolonialzeit, also den späten 50ern und 60ern saß auch Prinz Norodom Sihanouk gelegentlich am Flügel der Elephant Bar. Er interessierte sich seinerzeit mehr für Musik und Kunst als für Politik, hörte ich mal. 1968 veröffentlichte er sogar in der DDR eine Langspielplatte mit dem Leipziger Rundfunk-Orchester: “Palmen am Meer – Tanzmusik aus Kambodscha“. Alles übrigens Eigenkompositionen des späteren Königs.
Das Bier trank ich bei dem Preis wie einen guten Wein. Ich schaute mich neugierig um. Wo saß wohl Charlie und wo könnte Jackie gesessen haben? Und was ist überhaupt noch original? Hohe Arkaden, Elefantenmalereien an der Decke und den Wänden. Am Eingang ein geschnitzter Elefantenkopf aus Tropenholz und zwei riesige gekreuzte Stoßzähne: “Die seien aber nicht echt“, versicherte mir später der Türsteher beim rausgehen, auf Nachfrage. “Das würde gegen die geltenden Gesetze des Landes verstoßen“. Geschnitzte Elefantenmotive auch an den hölzernen Tischen. Der Name der Bar war Programm. Selbst der Serviettenhalter und der Kerzenständer auf meinem Tisch huldigten dem größten Landsäugetier unseres Planeten.
Ich liebte solch geschichtsträchtigen Plätze. Bars mit kolonialem Ambiente, an denen einst Berühmtheiten dekadent an Cocktails schlürften. Solche Plätze zogen mich an. Galt so was eigentlich schon als pervers? Dieses Faible entwickelte sich übrigens erst recht spät, so mit Ende Dreißig. Ich glaube, es begann in der kleinen Bar im “The Strand“, dem bekanntesten Hotel der burmesischen Hauptstadt Rangoon. Ich sage immer noch Rangoon. Yangon, wie die Stadt heute offiziell genannt wird, hört sich für meine Ohren irgendwie so gummiartig, so künstlich an. George Orwell pflegte unter anderem in der Bar des Strand Inspirationen für seine Romane zu sammeln. Mein neuer Fetisch verfestigte sich später im syrischen Aleppo, in der Hausbar des Hotel Baron. Dort nahmen Lawrence von Arabien oder Agatha Christi ihre Drinks zu sich. Das Baron hatte diese verstaubte Attitüde. Der alte Sessel auf dem ich saß roch muffig und hatte ein Loch. Das fand ich klasse. Eine unbezahlte Rechnung von T. E. Lawrence durfte man in einem Glaskästchen bestaunen. Sachen gibt’s!
Hemingways “La Bodegita del Medio“ in Havanna hingegen hinterließ keinen besonderen Eindruck auf mich. Man kannte die Bar schon zu sehr aus den unzähligen billigen Reportagen, die Anfang dieses Jahrtausends, während des großen Kuba-Hype auf allen Fernsehkanälen rauf und runter liefen. Mit den ganzen Touristen und den tausenden an den Wänden gekritzelten Trinksprüchen und Unterschriften langweilte das Ambiente. Es war ausgelutscht, war nicht mal den Cuba Libre wert den ich dort trank!
Mr. Rith, der Oberkellner, gesellte sich zu mir. Weißes Hemd und schwarze Hose, wie sich das gehört. Ich fragte ihn ein wenig aus. Vieles wusste ich ja schon, was ich mir aber nicht anmerken ließ. Immerhin, er wusste die Jahreszahl an dem das Hotel eröffnet worden ist. Nicht unbedingt üblich in diesem Teil der Welt. Er erzählte mir auch, dass die Elephant Bar erst vor Kurzem renoviert wurde und kaum noch etwas original sei. Selbst die nostalgischen Rattansessel mussten den braunen Ledersesseln weichen. Auch seien die Räumlichkeiten jetzt dreimal größer als zuvor. Nur noch die Malereien an der Wand seinen original. Etwas Enttäuschung. “Aber es sei immer noch derselbe Pianospieler von damals“, fuhr Mr. Rith fort. “Wie“ stutze ich, “der muss ja dann schon fast hundert Jahre alt sein?“ Dann erzählte er mir noch von einem reichen australischen älteren Paar, das hier zu einem Sonderpreis von 20.000 Dollar im Monat dauerhaft in einer der drei großen Suiten wohnte.
Es ist noch immer Regenzeit in Kambodscha. Das Wasser und die Winde rütteln an den schönen großen Fenstern der Elefantenbar. Die Palmen bogen sich in der Dunkelheit vor dem gegenüberliegenden 188 Meter hohen Wattanac-Capital-Tower, dem neuen architektonischen Wahrzeichen Phnom Penhs. Keine Möglichkeit die Bar zu verlassen. Mehr Kellner als Gäste. Ein paar Touristen und nur einige Gäste, die anscheinend auch hier wohnten. Im Fünfminutentakt läuft immer wieder der gleiche Kellner an meinem Tisch vorbei, mein Glas fest im Augenwinkel. Bei zehn Dollar für ein Bier, ließ ich aber gut sichtbar ein Viertel der blonden Flüssigkeit im Glas verweilen. Das ist so was wie eine Netiquette in solchen Etablissements, habe ich irgendwo mal gelesen, die es einem Kellner nicht erlauben zu fragen, ob man noch was trinken möchte.